Was haben unsere evangelischen Archive mit Bestattungskultur zu tun? Auf den ersten Blick sehr wenig. Vielleicht noch die kecke Vermutung, dass die Gemeindearchive eine Art »Aktenfriedhof« bilden. In gewisser Weise trifft dies zu, denn eines haben Archive und Friedhöfe tatsächlich gemeinsam: Sie dienen der Erinnerung an historische Geschehnisse und verstorbene Menschen. Interessant wird es da, wo beides zusammentrifft, wo in einem Gemeindearchiv an vergangenen Bestattungen und an die bestatteten Personen erinnert wird, wo die institutionelle mit der individuellen Dimension der Erinnerung sich verbinden. Beispielhaft mögen folgende Beobachtungen am Archivbestand der Ev. Kirchengemeinde Groß Särchen sein, den ich in diesem Jahr erschließen konnte.
15 Bände, oder besser: Verzeichnungseinheiten, sind es, die die Bestattungskultur in dieser Kirchengemeinde für mehr als ein halbes Jahrhundert dokumentieren. Was fällt bei der äußerlichen Betrachtung auf? Es finden sich zunächst ganze Papierbündel und Mappen mit einschlägigem Dokumentationsgut, manchmal ungeordnet, zuweilen alphabetisch nach den Namen der Verstorbenen geordnet. Mein absolutes »Highlight« sind dabei gebogene Metallhaken, die im vorderen Bereich angespitzt sind und von 1943 bis in die 1960er Jahre zum Aufspießen von Bestattungsunterlagen genutzt wurden. Später wurden aus den Mappen dick gefüllte Leitz-Ordner, die uns bis in das Jahr 2006 führen. Dann bricht die Überlieferung ab.
Interessant ist nun der Inhalt dieser 15 Verzeichnungseinheiten, denn es handelt sich – das benennt bereits ihr Titel – um »Lebensläufe verstorbener Gemeindeglieder«. Hunderte an Lebensläufen von Menschen aus Groß Särchen und Umgebung, die zwischen 1943 und 2006 in christlicher Tradition bestattet wurden. Verschiedene Eindrücke drängen sich auf: Die ersten Bände enthalten nahezu ausschließlich Lebensläufe, die überwiegend handschriftlich von Angehörigen verfasst sind. Sie erinnern an Trübsal und Freude eines erloschenen und in Gottes Reich eingegangenen Lebens, erinnern an Familienangehörige, Kinder und Enkel, berufliche Werdegänge, Feste und Jubiläen im Familienkreis, an Kriegs- und Notzeiten, berichten vor harter Arbeit in Landwirtschaft und Industrie und oftmals auch von Flucht und Vertreibung. Natürlich sind es zumeist Erdbestattungen und »Erbbegräbnisse« – das war zu jener Zeit so üblich.
Um 1960 ist der Beginn eines bis heute anhaltenden Trends zu beobachten: Die Lebensläufe werden weniger. Dafür lassen sich immer mehr Sterbeurkunden, Bestattungsscheine und sogar Anmeldungen zur Bestattung finden. Jenes verwaltungstechnische und streng genommen nicht zu archivierende »Beiwerk« bzw. die Dokumentation der Kasualien, jener kirchlichen Amtshandlungen, nimmt zu. Um das Jahr 2000 finden sich nur noch sehr wenige Lebensläufe, die nun in maschinenschriftlicher Form kurz und knapp verfasst sind.
Der Trend zur Verdichtung der Verwaltungstätigkeit, gewissermaßen sogar zu einer Lockerung sozialer Verbindungen und Bezüge ist unverkennbar. Ja, auch das ist ein Kennzeichen sich wandelnder Bestattungskultur. Die Gründe hierfür mögen vielfältig und komplex sein, mögen mit der »dünnen Personaldecke« in der evangelischen Landeskirche, mit dem Wegzug junger Menschen und der hiesigen stark überalterten Gesellschaft zu tun haben. Es ändert nichts an diesem Befund.
Freuen dürfen sich indes die historisch Forschenden. Ihnen bietet sich mit den »Lebensläufen« eine exzellente sozialhistorische Quelle, deren Aussagekraft und Potenzial entsprechend gewürdigt werden sollte.