»Kirche und Pfarrer haben versagt?« Über Pfarrer Kaebsch und das Ende des Zweiten Weltkrieges in Lauta-Dorf (Michael Peter Schadow)

I

Kürzlich fiel mir im Archiv des Evangelischen Pfarramtes Lauta-Dorf ein interessantes Dokument in die Hände: Es trägt den Titel »Bericht über den Einfall der Russen in Lauta im Jahre 1945«, umfasst 22 Schreibmaschinenseiten und wurde zwischen dem 8. und dem 13. Mai 1945 von Pfarrer Albert Kaebsch (1883-1945) verfasst. Hinzu kommen 5 Seiten »Nachträge zu vorstehendem Berichte«, wobei die Nachträge, das geht aus dem Text hervor, zwischen dem 20. Juli und dem 15. August 1945 angefertigt sein worden müssen.

In den zwei Texten ist von den Wirren des Kriegsendes die Rede. Es geht um Kriegsflüchtlinge, aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches, es geht um Einquartierungen dieser Flüchtlinge und es geht natürlich auch um den Einzug der Roten Armee. Der Schauplatz des Geschehens ist nicht etwa die heutige Stadt Lauta, früher hätte man hier ohnehin »Lautawerk« gesagt, sondern das kleine Heidedorf Lauta, heute als Ortsteil »Lauta-Dorf« bekannt. Die Perspektive ist die des preußischen Landpastors.

Gewiss liegt uns mit dem Bericht des Pfarrers Kaebsch eine historische Quelle von hoher Authentizität vor. Am Ende seiner Ausführungen stellt Kaebsch eine einfache Frage, die indes zwar auf den singulären historischen Augenblick gemünzt ist, aber weit darüber hinaus weist. So fragt er: »Ob man auch diesmal wieder wie nach dem 1. Weltkriege sagen wird: Kirche und Pfarrer haben versagt?«

Pfarrer Albert Kaebsch (Foto: Archiv Pfarramt Lauta-Dorf)

Nun kann diese Frage hier nicht ohne Weiteres behandelt und beantwortet werden, da die Dinge sehr kompliziert liegen. Natürlich gab es während der Zeit des Nationalsozialismus und auch in Lautawerk die sogenannten »Deutschen Christen«, aber es gab eben auch die Bekennende Kirche, den christlichen Widerstand aus den Reihen der Evangelischen Kirche. Dabei seien stellvertretend Persönlichkeiten wie Martin Niemöller (1892-1984), Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) oder der auch in Lautawerk wirkende Fritz Müller (1889-1942) genannt.

Wie indes das individuelle Handeln des Pfarrers Kaebsch in Lauta-Dorf, einem kleinen Flecken an der Peripherie, in den Wirren der letzten Kriegstage zu beurteilen ist und ob er versagt hat – darüber ist sehr wohl eine Einschätzung möglich. Sein Bericht liefert hierfür den Stoff.

II

Sicherlich war Kaebsch kein Vertreter des christlichen Widerstandes innerhalb der »Evangelischen Kirche der altpreußischen Union« wie es damals hieß. Sicherlich pflegte er – schon aufgrund seines Amtes – den Umgang mit regionalen Vertretern der NSDAP und sonstigen lokalen Repräsentanten des NS-Staates. Und das, obwohl er über zentrale Repressionsinstrumente der Nationalsozialisten gut im Bilde war, denn er wusste genau, »daß man selbst im Frieden nichts gegen den Nationalsozialismus sagen durfte, wenn man nicht hingerichtet werden oder ins Konzentrationslager kommen wollte.«

Auch ist bei Kaebsch ein gewisses, der Tradition des preußischen Protestantismus entsprechendes »Andienen« an die jeweiligen politischen Machthaber zu beobachten, was zudem noch biblisch begründet wird. So denkt er »auch an das Wort der Schrift (…): Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott!« Und man könnte nach der aktuellen Lutherbibel ergänzen: »wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.« Dieses von Pfarrer Kaebsch aufgegriffene Zitat aus dem 13. Kapitel des Römerbriefes (Verse 1f.) besitzt im Protestantismus eine gewichtige, fast unheilvolle Tradition, denn es diente jahrhundertelang nicht nur als antidemokratische Herrschaftslegitimation (Stichwort »Gottesgnadentum«), sondern zementierte besonders in Preußen das enge Bündnis zwischen Thron und Altar.

Dem ersten Eindruck zufolge, war Kaebsch durchaus kein Antifaschist, kein Widerstandskämpfer und auch kein Demokrat. Warum hat er aber dennoch in der historisch gebotenen Stunde, als die ersten Panzer der Roten Armee in Lauta-Dorf einrollten, das Richtige getan?

 

III

Ende Januar, Anfang Februar 1945. Gewaltige Flüchtlingsströme erreichen die Lausitz. Sie fliehen vor der herrannahenden Roten Armee und kommen aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches, aus dem Warthegau, aus den Kreisen Guhrau, Wohlau, Breslau und Rothenburg. Auch in Lauta-Dorf finden die Flüchtlinge Obdach. So beispielsweise im Konfirmandensaal der Kirchgemeinde, wo zeitweilig an die 30 Personen untergebracht werden.

Indes treffen die lokalen Machthaber Maßnahmen gegen die sich nähernde Rote Armee, ein letztes Aufbäumen des dem Untergang geweihten NS-Regimes setzt ein. Im kircheneigenen Wald werden die besten Bäume gefällt, um daraus Panzersperren zu fertigen. Völlig intakte Straßen werden zerstört. Im Gemeindeamt Lautawerk verbrennen die Beamtinnen wichtige Unterlagen. Bürgermeister und Ortsbauernführer befinden sich bereits auf der Flucht, ebenso viele Einwohner. Wer dazu in der Lage ist, versucht sich in Sicherheit zu bringen – eine Sicherheit, die allerdings äußerst trügerisch ist, denn vor den Truppen der Alliierten gibt es kein Entkommen.

Am Donnerstag, den 19. April 1945 hält Pfarrer Kaebsch noch eine Beerdigung in Johannisthal. Tags darauf ist es soweit: Nach 21:00 Uhr treffen die ersten Panzerspitzen der Roten Armee in Lauta-Dorf ein: »in der 10. Stunde der Sommerzeit kamen die ersten Panzer und der gesamte Troß an. (…) Wir hörten deutlich das schwere Rollen der Panzer, Wagen, das Summen der Autos und Motorräder und dazwischendurch ein fast ununterbrochenes Schießen oft verbunden mit schweren Detonationen, sodaß wir annahmen, daß der Volkssturm mit Panzerfäusten oder dergl. sich zur Wehr setzte.« Bald darauf gibt es die ersten persönlichen Begegnungen mit den Rotarmisten, die nicht immer friedlich geprägt sind. Es gibt Plünderungen, Vergewaltigungen und Selbstmorde. Manch einer gerät auf der Flucht in feindliches Feuer. Einzig Kirche und Pfarrhaus von Lauta-Dorf bleiben wie durch ein Wunder von größeren Übergriffen oder gar Zerstörungen verschont. Und dies hatte seinen Grund im umsichtigen Handeln des Dorfpfarrers Kaebsch.

 

IV

Kaebsch setzte sich als Repräsentant der Evangelischen Kirche aktiv für das Wohl der alten Dorfkirche und »seines« Pfarrhauses mit allen darin untergekommenen Flüchtlingen ein. Der Einsatz des Pfarrers zeigt sich etwa in den nicht immer ungefährlichen Verhandlungen mit den neuen russischen Besatzern. So hatte er das Glück »einen trefflichen Dolmetscher im Hause« zu haben, denn Herr Netzel und seine Frau, die beide zu den im Pfarrhaus einquartierten Flüchtlingen zählten, beherrschten die russische Sprache. Auf diese Weise gelang es, sich mit den Rotarmisten zu verständigen und größeren Schaden von Kirche und Pfarrhaus abzuwenden. Kaebsch berichtet wie »in den nächsten Tagen und Wochen die Russen in unser Haus kamen« und Gespräche geführt wurden, »und mancher, der mit böser Absicht in das Haus gekommen war, schied versöhnt und freundlich. (…) Es ist auf diese Weise dank der Güte Gottes unser Haus das Einzige in Lauta gewesen, das in jeder Weise verschont geblieben ist, und wir müssen das um so mehr anerkennen, als wir aus anderen Häusern, wie z.B. den Gasthäusern und dem Schulhause wirklich Entsetzliches gehört und erlebt und gesehen haben.« Dreh- und Angelpunkt der schonenden Behandlung kirchlicher Güter und Einrichtungen durch die Russen war eine amtliche Bescheinigung, die dem örtlichen Kommandanten der Roten Armee in zähen Gesprächen bei so mancher, ursprünglich für das Abendmahl gedachten Flasche Wein abgerungen wurde. Courage sowie eine große Portion Glück zeichneten das Wirken des Pfarrers Kaebsch in Lauta-Dorf zu jener Zeit aus.

Jene Courage zeigt sich auch in weiteren Aspekten unserer Geschichte. So finden nur etwa vier Wochen nach dem Einzug der Roten Armee wieder Gottesdienste in Lauta-Dorf und Großkoschen statt. Die Kirchen beider Orte sind zu Pfingsten 1945 gut gefüllt. In Großkoschen erscheinen gar Soldaten der Roten Armee im Gottesdienst, darunter auch der Kommandant des Ortes samt seiner Dolmetscherin. Nach dem Gottesdienst gibt es eine Unterredung zwischen Kaebsch und dem Kommandanten, der Pfarrer berichtet: »Er ließ mir durch seine Dolmetscherin sagen, daß ich alles, nämlich Gottesdienst, Taufen, Trauungen und Beerdigungen auch weiter in gewohnter Weise halten dürfte und sollte, daß man mich nicht hindern oder verhaften würde, nur dürfte ich in meinen Predigten in keiner Weise politisch werden.« Mit seinen Gottesdiensten und Angeboten gibt Pfarrer Kaebsch in den Wirren des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegszeit seinen Gemeinden einen festen Halt.

Den geleisteten Dienst versah Keabsch – zumindest in den unmittelbaren Wochen nach dem Kriegsende – ohne dafür bezahlt zu werden, denn eine »Eigentümlichkeit der Zeit war auch, daß nichts bezahlt oder gezahlt wurde. Man bekam alles umsonst, erhielt aber auch kein Gehalt oder Bezahlung für geleistete Arbeit.«

Und bereits vor Ankunft der Russen äußert sich der Pfarrer kritisch gegenüber den Maßnahmen des NS-Regimes. Kaebsch ist von der Sinnlosigkeit des letzten Widerstandes gegen die Rote Armee überzeugt. Er protestiert beispielsweise offen gegen den Bau der genannten Panzersperren: »Ich habe von vornherein die Überzeugung gehabt und das auch wiederholt ausgesprochen, daß diese Panzersperren völlig wertlos seien. Wenn man uns in den Wochenschauen immer gezeigt hat, wie die Panzer die stärksten Bäume umlegen und glatt durch vierstöckige Häuser fahren, da sollte man uns doch nicht glauben machen, daß ein paar quer über die Straße gelegte, wenn auch miteinander durch Eisenklammern verbundene Baumstämme auch nur einen einzigen Panzer aufhalten würden. Man hat auch hier wieder nur das Gefühl einer trügerischen Beruhigung hervorgerufen, ganz ähnlich wie bei dem Atlantik- und Westwall, die nicht einen einzigen Amerikaner oder Engländer gehindert haben, deutschen Boden zu betreten. Aber hier bei den Panzersperren war es vor allen Dingen die Partei, die wieder einmal wie fast immer unheilvoll ihre Hand im Spiele gehabt hat.« Natürlich steht der Pfarrer der Ausplünderung des kircheneigenen Baumbestandes ablehnend gegenüber, aber – und das ist das eigentlich Interessante – er verbindet diese Kritik mit einer verhalten anklingenden Ablehnung der nationalsozialistischen Partei.

Auch über den Volkssturm und dessen Aktivitäten in »Lauta-Lautawerk« hat Kaebsch eine ähnlich kritische Meinung. Dieser habe »viel und fleißig geübt, aber im entscheidenden Augenblick das einzig Vernünftige getan, nämlich erst keinen Widerstand zu leisten, sondern noch vor dem Einmarsch der Russen sich zu entfernen, so daß es also erst zu keinem Gefecht zwischen ihm und den Russen gekommen ist.« Widerstand wäre gewiss Wahnsinn gewesen. Weil man dies einsah, so berichtet Kaebsch, sei es auch zu keinem ernsthaften Beschuss des Dorfes Lauta gekommen.

Im zentralen Punkt der Geschichte hat Kaebsch mithin ebenfalls Einsicht und umsichtiges Handeln bewiesen, denn er und die Seinen blieben im Dorf und stellten sich der heraufziehenden Gefahr. Ohne den Empfehlungen des Regimes zu folgen und zu fliehen, wie ein großer Teil der Bevölkerung, bleibt er bei seiner Gemeinde, was »offenbar doch einen gewissen Eindruck auf die Russen gemacht (hat, M.P.S.); denn sie bezeugten mehrfach ihre Befriedigung darüber und erwähnten u.a. Hoyerswerda, wo der Pastor geflohen wäre. Scheinbar haben sie an solchen Orten, wo der Pastor geflohen war, auch ihre Wut an der Kirche ausgelassen (…).« Dieses Ausharren in schier auswegloser Situation und das damit verbundene Sich-Bemühen um die Gemeinde nötigen dem aufmerksamen Leser des Berichtes auch heute noch Respekt ab. Anstatt zu fliehen, legt Kaebsch schließlich der Nachwelt Rechenschaft über den historischen Augenblick und sein Handeln in dieser Zeit ab.

 

V

In Gänze betrachtet, hat Kaebsch in der skizzierten historischen Situation keinesfalls versagt. Im Gegenteil: Durch sein Ausharren und seinen Dienst für die Gemeinden hat er äußersten Mut bewiesen. Somit konnte der Dorfpfarrer sowohl Kirche als auch Pfarrhaus vor Plünderungen oder gar Zerstörungen bewahren, wodurch er einen beträchtlichen Teil des kulturellen Erbes seines Dorfes schützte. Freilich wurde er dabei durch so manche glückliche Fügung des Schicksals unterstützt, so beispielsweise durch Herrn Netzel und seine Frau, die im Pfarrhaus einquartiert waren und Russisch sprachen. Angesichts dieses Befundes kann man nun behaupten: Nein, Kirche und Pfarrer haben – zumindest in Lauta-Dorf und am Ende des Zweiten Weltkrieges – nicht versagt. Leider ist Pfarrer Kaebsch noch am 16. September des selben Jahres an den Folgen eines Motorradunfalls ums Leben gekommen.

Die Geschichte des Kriegsendes in Lauta-Dorf, aufgezeichnet vom damaligen Pfarrer, zeigt darüber hinaus, welches historische Potenzial in den Archiven unserer Pfarrämter schlummert. Und damit sind nicht nur Kirchenbücher gemeint, die ohnehin allen an Familien- und Ahnenforschung Interessierten als Quellen gut bekannt sind. Auch autobiografische Berichte, Lagerbücher, Zeitungsartikel aus längst vergangener Zeit und amtlicher Schriftverkehr finden sich dort an. Die Archive der Pfarrämter werden damit – und das grade in unserer ländlich geprägten Region – zu Erinnerungsorten sui generis.

 

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